Jedes Jahr zur Kiliani-Woche wird dem Altar im Dom der Schrein mit den Häuptern unserer Frankenapostel entnommen und zur Verehrung aufgestellt. Die drei Häupter sind ein treffendes Bild dafür, dass der heilige Kilian mit seinen Gefährten Kolonat und Totnan für Christus und sein Evangelium in der damaligen Gesellschaft ihren Kopf hingehalten haben.
Das Jahr über steht in der Krypta des Neumünsters, dem Ort, an dem wir verehren, dass dort Kilian mit seinen Brüdern das Martyrium erlitt, der Schrein der Märtyrer. Er hat das Bild eines Hauses. An den Giebelfronten sind auf der einen Seite die drei Glaubenszeugen dargestellt, auf der anderen der Dreifaltige Gott, den die Frankenapostel bezeugt und auf dessen Namen sie unsere Glaubensväter und Glaubensmütter tauften. An der Längsseite sind Szenen aus dem Leben Jesu zu sehen. Das Dach des Hauses zeigt Begebenheiten aus dem Leben der Glaubensboten – jeweils korrespondierend zur Jesus-geschichte. Die Frankenapostel haben, so dürfen wir es deuten, mit ihrem Leben das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi abgedeckt. Im Letzten ist der Schrein Hinweis, dass alle, die Christus nachfolgen, einmal bei Gott, unserem Vater, zuhause sein werden, in dem Haus, das viele Wohnungen hat.
Hochgehalten wird der Schrein, das Haus des Glaubens, dass Gott uns seine Liebe gezeigt hat in Jesus von Nazareth und dass Menschen dies bezeugt haben mit ihrem Leben, durch verhältnismäßig kleine Figuren, acht an der Zahl. Es sind Frauen und Männer, Junge und Alte. Sie knien und tragen mit erhobenen Armen das Haus Gottes. Über ihrem Kleid ist eine Schärpe zu sehen, auf denen die acht Seligpreisungen aus der Bergpredigt zu lesen sind. Die programmatische Rede Jesu vom Reich Gottes ist das Evangelium am Festtag des heiligen Kilian und seiner Gefährten. Die Seligpreisungen sind sozusagen Schmuck und Aufgabe, Zuspruch und Anspruch. Wer sie lebt, hält das Haus des Glaubens, das Haus, in dem der Mensch bei Gott zuhause ist, hoch. Selig sind, die arm sind vor Gott und wissen, dass sie das Leben nicht in der Hand haben. Selig sind, die trauern können und sich vom Leid der Welt berühren lassen. Selig sind, die sich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einsetzen. Selig sind, die Frieden stiften und immer wieder die Hand der Versöhnung reichen. Selig sind, die in der Spur Jesu zu leben versuchen.
Kleine Gestalten halten ein großes Haus. Im Bild ist schon die Frage zu erahnen: Können sie das? Sind sie stark genug? Erdrücken diese Worte nicht? Reicht das Wenige, was ich von den Seligpreisungen zu leben vermag?
Wir stellen nur diese Frage als Eltern im Blick auf die Kinder. Oder im Blick auf unsere Beziehungen. Es sind ja oft eher die großen Worte, denen dann nur kleine oder keine Taten folgen. Bringt es Frucht, was wir in Wort und Tat aussäen?
Ich hatte in der vergangenen Woche ein beglückendes Erlebnis. Bei Radio Horeb hatte ich ein Gespräch zu meiner „Berufungsgeschichte“. Zum Schluss wurden in dieser Sendung Hörerinnen und Hörer zugeschaltet. Also alles sehr zufällig. Eine erste Hörerin sagte: „Ich will mich nicht bedanken für diese Sendung. Das war schon gut. Ich möchte mich bedanken für ein Wort, dass Sie am 29. Juni 1983 im Bayerischen Rundfunk gesprochen haben. Ich habe den Text noch und lese ihn immer wieder: ,einfach leben!‘“ Weit über 30 Jahre lebt diese Frau mit und von diesem Zuspruch. Über all die Jahre hat ihr dieses Wort Kraft gegeben. Ich war erstaunt. Wir leben oft mit dem Zweifel an der Nachhaltigkeit unseres Redens und Tuns. Wenn so etwas schon zutage tritt in der Zufälligkeit, dann wird es irgendwo auch noch in anderen Bereichen ähnlich sein. Ich sage das nicht nur im Blick auf mich, sondern auf uns alle. Die zufällige Erfahrung löst ein, was Frère Roger von Taizé so sagt: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast und sei es noch so wenig – es reicht.“
In den vergangenen Wochen und Monaten wurden uns Grenzen unseres Planens und Vermögens durch einen kleinen Virus aufgezeigt. Wir spüren, dass wir ihn nicht bekämpfen können mit großen Worten und mächtigen Strategien. Geholfen hat und werden immer wieder die kleinen Zeichen von Zuwendung und signalisierter Nähe über alle Distanzen hinweg, die einzuhalten sind. Ob wir diese Erfahrung mitnehmen, wenn es dann in eine wohl andere Normalität geht?
Die Seligpreisungen sind ein Zuspruch, den Gott uns schenkt, wo wir das Leben nicht in der Hand haben. Gottes Liebe zu uns Menschen ist unermesslich. Sie übersteigt alle Kategorien und Dimensionen unseres Denkens und Handelns – Länge und Breite, Höhe und Tiefe. Gottes Liebe ist unergründlich, unermesslich – sie ist offen und weit (vgl. Eph 3,14-19) von der Krippe bis zum Kreuz.
Die kleinen Figuren am Kiliansschrein ermutigen uns. Nicht auf die großen Taten warten und hoffen. Sondern auf das Wenige und Kleine setzen, das uns gelingt, wenn wir in Gedanken, Worten und Werken mithelfen wie die Frankenapostel, dass das Reich Gottes, sein Haus für die Menschen, sichtbar und erfahrbar wird.
Amen.