Wir haben uns heute Morgen im Hohen Dom zu Trier eingefunden, um unserem Herrn Jesus Christus zu begegnen. Er ist das Ziel unserer Wallfahrt.
Hier in Trier wird die wohl berühmteste Herrenreliquie, der Heilige Rock, aufbewahrt. Vor genau 500 Jahren wurde sie zum ersten Male öffentlich gezeigt. Dies geschah damals auf Drängen der Trierer Bürger. Zuvor hatte sich Kaiser Maximilian diese im Hochaltar eingemauerte Reliquie zeigen lassen. Sie wurde in unterschiedlichen Abständen – zuletzt 1996 – gezeigt. Anlass dieser letzten öffentlich ausgestellten Reliquie war deren Übertragung vor genau 900 Jahren aus dem Westchor in den gerade fertig gestellten Ostchor dieses Domes.
Darf man in dieser tunica inconsutilis das nahtlose Gewand Christi sehen, so wie es der Evangelist Johannes beschreibt? Wörtlich: „Als nun die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldat einen Teil, und dazu den Rock. Der Rock aber war ohne Naht, von oben angefangen ganz gewebt. Sie sprachen nun zueinander: Wir wollen ihn nicht zerteilen, sondern darum losen, wer ihn bekommen soll – damit die Schriftstelle erfüllt würde: ‚Sie haben meine Kleider unter sich verteilt und über mein Gewand das Los geworfen’ (Ps. 22,19)“ (Joh 19,23ff.)
Alle vier Evangelisten beziehen sich in ihrer Schilderung auf den im Text zitierten Psalm 22. Aber nur Johannes spricht zusätzlich von einem nahtlosen Rock.
Sicherlich können wir davon ausgehen, dass es sich bei diesen Schilderungen nicht um historische Berichterstattung handelt. Vielmehr geht es um die Sinnerschließung:
Im nahtlosen Gewand hat schon der Kirchenvater Cyprian von Karthago (gestorben 258) ein Symbol für die Einheit der Kirche gesehen. Und auch Hieronymus (gestorben 420) sieht im Auseinanderdriften der Kirche im Orient eine Zerstörung der „unzerrissenen von oben her gewebten Tunika des Herrn in Einzelteile“ (vgl. Seinen Brief an Papst Damasus).
Diese Zeichendeutung ist auch für uns entscheidend.
Zum einen steht nicht das Gewand im Mittelpunkt, sondern sein Träger Jesus Christus. Zum anderen steht das nahtlose Gewand für die Einheit der Kirche. Gerade in unseren Tagen, in denen wir die Trennung der Christenheit schmerzlich im Widerspruch zum Willen Christi erkennen, ist die jetzige Ausrichtung der Wallfahrt unter dem Leitgedanken „und führe zusammen, was getrennt ist“ ein wichtiger gemeinsamer Schritt auf die erbetete Einheit zu.
Die Trierer Reliquie selbst ist eingebettet in eine kurzärmelige Tunika, die ungemustert und bräunlich verfärbt, eigentlich nur das ‚Reliquiar’ des Gewandes ist. Die Echtheit des Leibrockes Jesu, der sich nur in Partikeln innerhalb des Tunika-Reliquiars befindet, ist heute textwissenschaftlich nicht mehr zu eruieren.
Die mittelalterliche Tradition (12. Jahrhundert) führt den Leibrock Jesu auf die Heilige Helena, die Mutter des Kaisers Konstantin, zurück, die verschiedene Reliquien im Zusammenhang mit der Überführung der Reliquien des Apostel Matthias nach Trier gebracht habe. Drunter habe sich auch eine Tuchreliquie befunden.
Unter dem heutigen Dom, stand das domus Helenae, der Palast der Kaiserin. Im Zentrum dieses römischen Kernbaus hat man vor kurzem erst eine polygonale Anlage gefunden, die den Gedanken an eine ‚Herrenmemoria’ verstärkt.
Von einer organisierten Verehrung wird zum ersten Male im Jahre 1512 berichtet.
Die Vielzahl der Herrenreliquien lässt natürlich die Echtheitsfrage immer wieder aufkommen. Allein 20 Orte glauben, die echte Tunika Christi zu besitzen. Der Kirchenhistoriker Erwin Iserloh führt dies auf die Tradition der Berührungsreliquien zurück, die seit dem 4. Jahrhundert bezeugt sind. So hat zum Beispiel Papst Gregor der Große der Kaiserin Constantina, die sich Gebeine der Apostelfürsten erbeten hatte, statt der Reliquien Tücher, die an den Apostelgräbern angerührt waren, mit der Begründung geschickt, dass bei ihnen dieselben Wunder geschähen wie an den Apostelgräbern.
Da Berührungsreliquien schon seit dem 4. Jahrhundert bezeugt sind, mag es bei diesem Denken auch zu der Vielzahl von Herrenreliquien gekommen sein. Der Trierer Leibrock nimmt dabei eine besondere Stellung ein.
„Die Reliquie beziehungsweise das, was man vom Kerngewebe und den Hüllen vorgefunden hatte, war … in eine weitere Schutzhülle eingenäht worden, deren Proportionen ‚dem Schnitt einer liturgischen Tunika des 16. Jahrhunderts entsprachen.“ (Mayers, Norbert: Der Heilige Rock zu Trier. In: Katholische Bildung. April 2012, S. 176)
Für uns heute ist es wichtig, den Leibrock Jesu als Symbol für die Einheit der Kirche zu sehen. Kardinal Cassidy hat vor Jahren als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen in Trier gesagt, dass „heute (der Leibrock Jesu) in Fetzen und Stücken, in Konfessionen und Denominationen, die sich in der Geschichte oft gegenseitig bekämpften, anstatt den Auftrag des Herrn zu erfüllen, eins zu sein“ zerteilt sei. (Kardinal Kurt Koch: Das gemeinsame Ziel erkennen. In: Die Tagespost, 23.02.2012, S. 7)
Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, das zusammenzuführen, was getrennt ist. Das Leid der getrennten Christen, das sich oft auch in konfessionsverschiedenen Familien abspielt, darf nicht einfach so hingenommen werden. Wir müssen nach Wegen suchen, die Einheit des Leibes Christi wieder herzustellen.
Kardinal Koch schrieb zum Leitwort der diesjährigen Heilig-Rock-Wallfahrt in Trier: „Während von nicht wenigen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften die ökumenische Einheit bereits in der gegenseitigen Anerkennung der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gesehen wird, hält demgegenüber die katholische Kirche zusammen mit den orthodoxen Kirchen an der ursprünglichen ökumenischen Zielvorstellung einer sichtbaren Einheit im gemeinsamen Glauben, in den Sakramenten und in den kirchlichen Ämtern fest, wie Papst Benedikt XVI. unlängst mit klaren Worten ausgesprochen hat: ‚Die Suche nach der Wiederherstellung der Einheit unter den gespaltenen Christen darf sich … nicht auf die Anerkennung der jeweiligen Unterschiede und das Erreichen eines friedlichen Zusammenlebens beschränken.’“ (Ebd.)
Hier sind wir alle gefragt. Wir sind – so denke ich – auf dem richtigen Weg. Aber der Weg ist noch nicht das Ziel.
Wenn diese Heilig-Rock-Wallfahrt mit dazu beiträgt, dass die Einheit im Glauben weiter gefördert wird, dann hat sie einen ganz besonderen Stellenwert und Sinn. Kardinal Koch: „Wenn wir … (die Ökumene) nicht nur zwischenmenschlich oder philanthropisch sondern wirklich aus der Mitte des Glaubens heraus verstehen, dann kann sie nur unser Einstimmen in das Hohepriesterliche Gebet Jesu und unser Einswerden mit ihm sein, indem wir uns sein Herzensanliegen zu eigen machen.“ (Ebd.)
Möge auch unsere Wallfahrt anlässlich der öffentlichen Zeigung des Heiligen Rockes eine Wallfahrt zu Christus sein, der uns zur Einheit im Glauben aufruft und der Anfang, Mitte und Ziel unseres Daseins ist. Amen.