Würzburg (POW) Zum 1. August 2010 übergibt Pfarrer Alfred Singer (65) sein Amt als Referent für Weltanschauungs-, Religions- und Sektenfragen an Dr. Jürgen Lohmayer (47), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Stiftungslehrstuhl für Missionswissenschaft und Dialog der Religionen an der Universität Würzburg. Singer, gebürtiger Ochsenfurter, übernahm das Referat zum 1. Januar 1998 und verstand sein Tun „immer als seelsorgliche Aufgabe: neben aller notwendigen Recherche- und Informationsarbeit vor allem Menschen in schwierigen Situationen beizustehen und soweit wie möglich zu helfen“. In folgendem Interview spricht er über Erfahrungen, Veränderungen und Entwicklungen auf dem Markt der Weltanschauungen, Religionen und Sekten.
POW: Seit 1998 Jahre sind Sie Referent für Weltanschauungs-, Religions- und Sektenfragen und geben die Aufgabe Ende Juli 2010 ab. Fällt Ihnen der Abschied von dieser Aufgabe schwer?
Pfarrer Alfred Singer: Ja und nein. Der Abschied fällt mir nicht leicht, da ich immer wieder Menschen in teilweise schwierigen bis verzweifelten Situationen zur Seite stehen konnte: Menschen, die nach ihrem Ausstieg aus einer sogenannten Sekte nach Halt und Orientierung für ihr weiteres Leben suchen; Angehörigen, die schwer daran tragen, dass der Partner, ein Kind oder ein lieber Freund sich einer sektiererischen oder esoterischen Gruppierung angeschlossen hat, plötzlich nichts mehr mit seinem bisherigen Leben zu tun haben will und die persönlichen Kontakte einfriert oder sogar abbricht; Menschen, die nach einem Schicksalsschlag oder einfach als Suchende in der Gefahr sind, in eine konfliktträchtige Gruppierung abzudriften, die ihnen scheinbar eine Lösung für alle ihre Fragen und Probleme anbietet. Viele wertvolle menschliche Begegnungen werde ich nie vergessen. Aus manchen Begegnungen sind Freundschaften entstanden, die auch nach meinem Ausscheiden weiter bestehen werden. Andererseits war es mein eigener Wunsch, nach Vollendung des 65. Lebensjahres die Aufgabe in jüngere Hände zu legen, nicht fast ausschließlich mit Konfliktsituationen zu tun zu haben, es etwas ruhiger angehen zu lassen und noch für ein paar Jahre als ganz „normaler“ Seelsorger zu wirken.
POW: Mit welcher Thematik haben Sie sich in diesen Jahren am meisten beschäftigt oder beschäftigen müssen?
Singer: Nachdem wir seit einigen Jahren eine wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Bereich der nichtchristlichen Religionen und für den interreligiösen Dialog haben, konnte ich den Fokus meiner Arbeit auf Sekten, Esoterik, Psychoszene, Okkultismus, Satanismus und deren weltanschaulichen und gesellschaftlichen Hintergrund legen. Nach dem 11. September 2001 konnte ich mich vor Anfragen nach Informationen über den Islam kaum retten. Schwerpunkte waren dann die sich immer weiter ausdifferenzierende Esoterik- und Psychoszene, pfingstlerisch-charismatische Gemeinden und Gruppierungen vor allem im freikirchlichen Bereich, aber auch – womit ich am Beginn meiner Tätigkeit überhaupt nicht gerechnet hatte – umstrittene Phänomene im innerkirchlichen Bereich, wenn zum Beispiel Menschen behaupten, Botschaften von Gott oder von Jesus Christus zu erhalten, in direktem Kontakt mit Engeln oder Heiligen zu stehen, sich okkult belastet oder sogar teuflisch-dämonisch besessen glauben.
POW: Was war die kurioseste Anfrage, die Sie zu beantworten hatten?
Singer: Ob es die kurioseste Anfrage war, kann ich auf Anhieb gar nicht entscheiden, aber spontan fällt mir die folgende ein: Nach einem Fernsehinterview, bei dem ich zu Besessenheit und Exorzismus in der katholischen Kirche befragt wurde, rief mich ein Mann aus Nordrhein-Westfalen an und sagte: „Ich werde von dämonischen Mächten bedrängt, bin geistigen und körperlichen Angriffen ausgesetzt und leide furchtbar. Können Sie mir das nicht wegmachen?“ Als ob man solche Phänomene mit ein bisschen Hokuspokus aus der Welt schaffen könnte, ohne seelsorgliche und psychotherapeutische Begleitung über längere Zeit. Eine bizarre Szene erlebte ich vor wenigen Monaten auf dem Verwaltungsgericht in Freiburg, wo sechs Anhänger des „Universellen Lebens“ (UL) Erzbischof Zollitsch und damit letztlich der katholischen Kirche gerichtlich verbieten lassen wollten, sich christlich zu nennen. Natürlich wurde die Klage auf der ganzen Linie abgewiesen und den Klägern die Kosten des Verfahrens auferlegt. Dennoch sprang am Ende der Verhandlung einer der UL-Anwälte auf und rief: „Wir haben trotzdem gewonnen!“ Da wurde mir wieder einmal deutlich, zu welchem Realitätsverlust eine Sektenzugehörigkeit führen kann.
POW: Sie sind ja vor allem als Sektenbeauftragter bekannt. Welche Sekten sind im Bistum Würzburg besonders aktiv?
Singer: Ein besonderer Schwerpunkt war in all den Jahren immer das „Universelle Leben“, das sich ja vor allem im Raum Unterfranken angesiedelt hat, zumal uns zu dieser Gruppierung Anfragen weit über den Bereich der Diözese hinaus erreichen, vor allem wenn das UL mit antikirchlichen Aktionen an die Öffentlichkeit tritt. Häufiger zu tun hatte ich auch mit Anfragen und Beratungsfällen zu den Zeugen Jehovas und zu pfingstlerisch-charismatischen Gruppierungen. Ansonsten gibt es aber die ganze Bandbreite von umstrittenen innerkirchlichen Phänomenen und Gruppierungen über Esoterik, Psychoszene bis hin zu Okkultismus und Satanismus, wobei es in der Diözese Würzburg nach meinem Erkenntnisstand glücklicherweise keine harten satanistischen Gruppierungen gibt.
POW: Wie gehen Sie damit um, auch persönlich und bis ins Privatleben hinein von Sekten angegriffen zu werden?
Singer: Solche Angriffe haben sich in engen Grenzen gehalten. Persönliche Angriffe kamen eigentlich nur von UL-Anhängern, die mich – wie übrigens auch die Weltanschauungsbeauftragten anderer Diözesen und Landeskirchen – als Verleumdungsbeauftragter oder Rufmordbeauftragter (der Diözese Würzburg) beschimpfen. Wenn man aber um den abgrundtiefen Hass des UL auf die christlichen Kirchen weiß, nimmt man das nicht so tragisch. Ein festes Glaubensfundament braucht man allerdings schon, um den Anfeindungen und der ständigen Konfrontation mit schwierigen Situationen standhalten zu können.
POW: Haben Sie im Rahmen Ihrer Tätigkeit auch gefährliche Situationen erlebt?
Singer: Eine Situation, in der ich um Leib und Leben hätte fürchten müssen, habe ich Gott sei Dank nie erlebt. Unerfreuliche Situationen gab es vor allem bei einigen „Kontakten“ mit dem UL, etwa als ich vor Jahren einmal von einem Auto verfolgt wurde oder als ich vor wenigen Wochen zusammen mit zwei Kollegen in der Nähe von UL-Einrichtungen massiv verbal angegangen wurde. Bleibende Schäden habe ich aber sicher nicht davon getragen.
POW: Was hat sich bei den von Ihnen beobachteten Sekten in den vergangenen Jahren geändert?
Singer: Die ganze weltanschauliche Landschaft hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert: weg von den „klassischen“ Sekten – die es natürlich weiterhin gibt – hin zu unzähligen Angeboten auf dem Esoterik- und Psychomarkt. Da entstehen laufend neue Gruppen und Grüppchen, die sich zum Beispiel um einen Astrologen, um ein hellsichtiges Medium, eine Wahrsagerin oder einen Anbieter von Psychomethoden scharen. Esoterische Anschauungen und Praktiken sind auch stark in den Wellnessbereich eingedrungen. Im eigentlichen Sektenbereich haben in Deutschland manche Gruppierungen, die früher viel von sich reden machten, an Bedeutung und Einfluss verloren; ich denke etwa an die Moon-Sekte, Hare-Krishna-Bewegung, Bhagwan-Osho-Bewegung, also vor allem solche, die man früher als „Jugendsekten“ bezeichnet hat. Umgekehrt haben sich neue Szenen gebildet, zum Beispiel die Satsang-Bewegung, in der meist westliche „Lehrer“ ganz im Sinne der hinduistischen Lehre von der Nicht-Zweiheit (Advaita) ihre „Schüler“ zum Durchbruch in die letzte, absolute Wirklichkeit führen wollen. Beim UL ist mir aufgefallen, dass nach außen hin nur noch sehr wenig von den Lehrinhalten gesprochen wird, dagegen zwei Themenbereiche dominieren: Natur- und Tierschutz, biologischer Landbau, vegetarische beziehungsweise vegane Ernährung, Aktionen gegen die Jagd und gegen Fleischverzehr einerseits, Kampf gegen die christlichen Kirchen andererseits.
POW: Der Markt der Weltanschauungen ist noch bunter geworden. Wie würden Sie ihn im Jahr 2010 umschreiben?
Singer: Der Markt weltanschaulicher Angebote ist so vielfältig geworden, dass man ihn nicht einmal mehr als „Fachmann“ vollständig überblicken kann. Für viele Menschen wird es zunehmend schwieriger, sich in diesem „Dschungel“ zurechtzufinden und einen eigenen stimmigen Lebensentwurf zu entwickeln, zumal die in der Vergangenheit tragenden Sinnangebote, etwa die der christlichen Kirchen, dramatisch an Einfluss verloren haben. Viele Menschen basteln sich aus der Fülle von Angeboten ihre eigene Religion oder Weltanschauung zusammen, in der dann Inhalte aus Christentum, östlichen Religionen und esoterischen Anschauungen eine bunte Mixtur bilden; man spricht heute oft von „Patchwork-Religiosität“. Andere springen von Angebot zu Angebot, probieren dieses und jenes aus und sind kaum noch in der Lage, für ihr Leben eine Richtung und ein Ziel zu finden. Auf diesem Hintergrund ist die weltanschauliche Beratungsarbeit in den vergangenen Jahren immer vielfältiger und schwieriger geworden. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht; der „Markt der Möglichkeiten“ dürfte noch bunter und vielfältiger werden.
POW: Welche Entwicklungen betrachten Sie mit besonderer Sorge?
Singer: Die genannte Entwicklung beobachte ich mit Sorge, da sie viele Menschen überfordert und sie kaum noch in der Lage sind, für ihr Leben ein tragendes Fundament zu finden. Eine Folge davon ist, dass die Wartezimmer der Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater überfüllt sind. Aber auch selbsternannte Lebensberater, psychologische Begleiter und „Gurus“ haben starken Zulauf – mit möglicherweise fatalen Folgen für ihre „Klienten“. Auch die gegenläufige Entwicklung beobachte ich mit Sorge: Menschen flüchten sich in angeblich absolute Sicherheiten, indem sie einen Teilaspekt, eine Teilwahrheit für sich absolut setzen und sie mit Klauen und Zähnen gegen jede Infragestellung verteidigen. Solche fundamentalistischen Tendenzen gibt es heute nicht nur in den Religionen, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich.
POW: Zu welchen Religionen erhalten Sie und Ihre Mitarbeiter besonders oft Anfragen?
Singer: Eindeutig am häufigsten zum Islam, der Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden ist. Dass in Deutschland inzwischen über vier Millionen Muslime leben, macht manchen Menschen Angst, und diese Ängste werden von einschlägigen Gruppierungen gezielt geschürt und instrumentalisiert. Umso notwendiger ist das offene Gespräch, der Dialog, der ja von den christlichen Kirchen seit langem gepflegt wird. In Würzburg haben wir seit Jahren den Interreligiösen Gesprächskreis und die Arbeitsgemeinschaft für Christlich-Islamische Begegnung und Zusammenarbeit (ACIB). Im Oktober findet der jährlich vom Runden Tisch der Religionen in Deutschland veranstaltete Tag der Religionen erstmals in Würzburg statt. Anfragen erhalten wir, wenn auch seltener, auch zum Buddhismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, vor allem zu buddhistischen Gruppierungen und Zentren in Deutschland.
POW: Wie sieht Ihre persönliche Bilanz der vergangenen zwölf Jahre aus?
Singer: Ich bin froh und dankbar, dass ich jahrelang an einem Schnittpunkt verschiedenster religiöser, weltanschaulicher und gesellschaftlicher Entwicklungen stehen und arbeiten konnte. Meine Arbeit habe ich immer als seelsorgliche Aufgabe verstanden: neben aller notwendigen Recherche- und Informationsarbeit vor allem Menschen in schwierigen Situationen beizustehen und soweit wie möglich zu helfen. Vielleicht ist es zuweilen gelungen, Menschen, die eigentlich der Kirche fern stehen, ein anderes Bild von Kirche zu vermitteln. Nicht selten habe ich die Worte gehört: „Dass das die Kirche für uns tut...“ Es war keine leichte, aber eine erfüllte Zeit.
POW: Was nehmen Sie ganz persönlich als Erkenntnis in Ihre nächste Aufgabe mit? Welchen guten Ratschlag haben Sie für Ihren Nachfolger?
Singer: Eine wichtige Erkenntnis: Zuhören ist ein ganz wesentlicher Teil seelsorglicher Arbeit. In vielen Fällen war es nicht möglich, eine gegebene Situation einfach zu verändern. Dass Menschen in solchen Situationen aber einen Ansprechpartner finden, der Verständnis für ihre Probleme hat, der sich in ihre Situation hineindenken kann, der ihnen vielleicht auch manchen guten Rat geben kann, ist für sie unglaublich wichtig. Oft genug scheuen sie sich ja, mit Verwandten oder Freunden über ihre Probleme zu sprechen, weil sie fürchten, missverstanden, ausgelacht oder mit „guten Ratschlägen“ abgespeist zu werden. Wie oft habe ich nach langen Gesprächen den Stoßseufzer gehört: „Jetzt ist mir leichter ums Herz“, auch wenn die Situation sich nicht verändert hat. Diese Offenheit für ganz spezielle Sorgen und Nöte konkreter Menschen wünsche ich – neben aller notwendigen Sachkompetenz – meinem Nachfolger von ganzem Herzen.
(3010/0963; E-Mail voraus)
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