Würzburg/Münsterschwarzach (POW) Oberstudiendirektor Robert Scheller (59) leitet seit zehn Jahren das Egbert-Gymnasium der Missionsbenediktiner in Münsterschwarzach mit rund 900 Schülern. Die Schüler kommen aus dem Landkreis Kitzingen, Würzburg und Umgebung sowie dem Ochsenfurter Gau, einige fahren aber auch bis zu 60 Kilometer an. In diesem Jahr wurde der zweite G8-Abiturjahrgang verabschiedet. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen mit G8 und die neuen Pläne der bayerischen Staatsregierung, die unter anderem ein Flexibilisierungsjahr in der Mittelstufe einführen will.
POW: Glückwunsch! Alle 112 Schüler des zweiten G8-Jahrgangs haben das Abitur bestanden. Wie sind die Abschlussprüfungen diesmal ausgefallen? Beim ersten G8-Abitur ließ Kultusminister Ludwig Spaenle ja noch kurzfristig „nachbessern“…
Scheller: Die Abiturienten haben den gleichen Notendurchschnitt erreicht wie in den Vorjahren. Gleich drei Absolventen schlossen mit der Traumnote 1,0 ab. Auch im Schuljahr 2010/11, dem Jahr des doppelten Abiturjahrgangs mit insgesamt 181 Schülern, hatten alle Abiturienten bestanden und im Schnitt bis auf das Hundertstel die gleichen Noten wie die Jahrgänge zuvor. Alle hätten auch ohne „Nachbesserungen“ bestanden. Durch das G8 hat sich also weder an der Bestehensquote noch an der Durchschnittsnote etwas geändert. Allerdings zeigt ein solches „Nachbessern“ meiner Meinung nach, dass die Einführung des verkürzten Gymnasiums zu wenig überdacht und erprobt war.
POW: Nun hat die Staatsregierung noch vor den Sommerferien die nächste „Nachbesserung“ beschlossen: Mit einem freiwilligen Flexibilisierungsjahr sollen Schüler in der Mittelstufe ihre Schulzeit um ein Jahr verlängern können. Außerdem sollen die Lehrpläne entrümpelt und mehr individuelle Förderung, etwa Blockseminare an den Wochenenden, angeboten werden.
Scheller: In der Presse wurde viel Wind um diese Pläne gemacht. Aber die genauen Pläne werden ja erst im Herbst verabschiedet. Wir bieten den Schülern gerne individuelle Förderung an, aber wegen ein, zwei Schülern, die sich eventuell für ein Flexibilisierungsjahr interessieren, können wir keine eigene Gruppe einrichten. In diesem Schuljahr zum Beispiel haben in der gesamten Mittelstufe ganze sechs Schüler das Klassenziel nicht erreicht. Und die vorgeschlagenen Blockseminare sind an sich nichts Neues, viele unserer Lehrer bieten das jetzt schon an. Im Flexibilisierungsjahr würde sich im Übrigen die gleiche Frage stellen wie sonst auch: Wie motivieren wir Schüler zum Lernen in einem Fach, das sie nicht mögen?
POW: Der Staatsregierung schwebt auch vor, dass gute Schüler dieses Extrajahr für einen Auslandsaufenthalt nutzen könnten. Ist das realistisch oder Wunschdenken?
Scheller: Im G9 waren die Schüler in der 11. Klasse in der Regel bereits 16 Jahre alt. Ein starker Schüler konnte in diesem Alter ohne weiteres ins Ausland gehen. Von 100 Schülern taten dies im Schnitt acht bis zehn. Im G8 ist ein Schüler in der 10. Klasse meist noch nicht 16 Jahre alt, er hat noch keine Mittlere Reife …Von 100 Schülern gehen jetzt nur noch zwei bis vier ins Ausland. Das ist eindeutig dem Alter geschuldet, aber auch der rechtlichen Unsicherheit, auch von Seiten der Veranstalter. Ein Auslandsaufenthalt kann eine gute Möglichkeit sein, den eigenen Weg zu finden – aber nun entscheiden sich immer mehr Schüler nach dem Abitur dafür und nicht davor. Wir beobachten auch, dass sich junge Menschen nach dem Abitur vermehrt für ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder einen Freiwilligendienst in Entwicklungsländern, beispielsweise mit „weltwärts“, entscheiden.
POW: Was ist Ihr bisheriges Fazit zum G8?
Scheller: Das G8 ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Alle am Schulleben Beteiligten machten und machen sich Gedanken, wie unter den Gegebenheiten der einzelne Schüler möglichst gut gefördert werden kann. Doch in einem Punkt sind sich Schulleiter, Lehrer, Eltern und Schüler einig: Für die individuelle Förderung, die Einübung des Gelernten, ist durch die Verkürzung der Schulzeit einfach zu wenig Zeit. So gab es zum Beispiel ein großes Aufstöhnen im Lehrerzimmer, als in den 7. und 8. Klassen in den Sprachen aus vier Unterrichtsstunden auf einmal drei wurden – gerade wenn es um das Einüben geht. Viele Eltern haben sich beschwert, warum denn schon wieder Stunden gekürzt würden.
POW: Wie geht die Schule mit den veränderten Anforderungen um?
Scheller: Es geht uns vor allem darum, wie die Belastung für die jungen Menschen sinnvoll verteilt werden kann. So bieten wir ab dem Schuljahr 2012/13 eine gebundene Ganztagesbetreuung von 8 bis 16.20 Uhr an. Der Unterricht wird unterbrochen von Zeiten etwa für die Hausaufgaben und von Erholungsphasen. Die Anforderungen sollen sich auf diese Art gleichmäßig über den ganzen Tag verteilen. Dieses Angebot wurde bei der Anmeldung für das neue Schuljahr von den Eltern sofort gut angenommen. Auch soll vermehrt der 90-Minuten-Takt eingesetzt werden, mit dem wir bereits im vergangenen Schuljahr begonnen haben. Der bislang übliche 45-Minuten-Takt wird von vielen als hektisch empfunden. Auch die Arbeit im Abiturjahr hat sich geändert. Unsere angehenden Abiturienten sind nun bis zu zweieinhalb Jahre jünger. So bleibt zum Beispiel die Interpretation philosophischer Texte auf einer mehr vordergründigen Ebene stehen. Der „Faust“ oder die „Iphigenie“ werden von ihnen anders aufgenommen, denn ihre Lebenserfahrung ist eine andere als in der Oberstufe des G9. Die Lehrer müssen Wege finden, die Texte mit der Lebenswirklichkeit dieser jüngeren Schüler in Verbindung zu bringen.
POW: Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Eltern?
Scheller: Wenn Eltern zum Beispiel bei Interviews zum „Deutschen Schulpreis“ oder auf schulradar.de ihrer Schule ein Top-Zeugnis ausstellen, motiviert das wiederum die Pädagogen. Viele schrieben, sie seien vom Schulklima sehr angetan, die Kinder seien motiviert und hätten Spaß am Schulleben. Wir glauben, dass wir einen guten Weg gefunden haben, um das kreative Dreieck Schüler-Eltern-Lehrer in ein gutes Verhältnis zu bringen und die jungen Menschen entsprechend zu fordern und zu fördern.
POW: Ihre Schule bietet eine große Bandbreite an Zusatzaktivitäten an: Chor, Instrumentalunterricht, Theater, Sport … Haben die Schüler überhaupt noch Zeit für solche Extras?
Scheller: Wir hatten anfangs große Bedenken. Doch eingetreten ist genau das Gegenteil: Der „Zug“ in diese Gruppen wurde in den ersten Jahren des G8 sogar noch stärker. Als ich Abiturienten fragte, ob wir auf Dauer unser Theaterangebot halten können, antworteten sie: „Einmal Theater, immer Theater!“ Gerade Jugendliche brauchen einen echten Ausgleich zu Stunden mit starker Wissensvermittlung. Und man darf nicht vergessen: Schüler, die ans Gymnasium kommen, können in der Regel gut lernen. Entscheidend ist, ob sie lernen wollen. Wenn junge Menschen ein Ziel vor Augen haben, können sie in einer Umgebung, in der sie sich wohlfühlen, sehr viel Energie abrufen. Unsere Erfahrung ist, dass viele, die in den musischen oder sportlichen Gruppen Großartiges geleistet haben, auch im Abitur tolle Leistungen erzielt haben. Umgekehrt kann ein Schüler eine schlechte Note besser wegstecken, wenn er sich zum Beispiel im Theater beweisen kann. Die Schüler sollen in den wichtigen Jahren des Wachsens und Reifens nicht nur fachlich fit gemacht werden, auch ihre Persönlichkeit soll sich gut entwickeln können, damit sie später in Gesellschaft und Kirche verantwortliche Aufgaben übernehmen können.
Trotz der höheren Stundenbelastung absolvieren die G8-Schüler übrigens in den 9. Klassen ein zweiwöchiges Berufspraktikum und in den 11. Klassen ein Sozialpraktikum, bei dem sie 14 Tage in einem Kindergarten, Krankenhaus, der Altenpflege oder einer anderen sozialen Einrichtung arbeiten. Wir bekommen tolle Rückmeldungen. Wichtig ist, dass sie dabei lernen: Das Soziale gehört zum Leben dazu.
POW: Das Abiturzeugnis ist ein „Reifezeugnis“ – wie ist es um die Reife der nun jüngeren Abiturienten bestellt? Sind sie schon fit für die Hochschule beziehungsweise die Wahl eines Berufs?
Scheller: Das ist ein Hauptproblem, das vor und bei der Einführung überhaupt nicht im Blickpunkt der Verantwortlichen war. Manche Abiturienten wurden mit fünfeinhalb Jahren eingeschult und sind bei der Abiturprüfung noch nicht 18. Durch den Wegfall von Bundeswehr und Zivildienst gehen einige direkt an die Universität. Aber wie soll sich ein 17-Jähriger an der Universität einschreiben oder ein Zimmer mieten? Auch viele Eltern machen die Erfahrung, dass ihre Kinder weniger bereit sind, Entscheidungen in beruflichen Dingen zu treffen. Bislang gab es in der Oberstufe keine Elternabende. Die Erfahrungen der ersten beiden Abiturjahrgänge haben zu Überlegungen geführt, auch für die neue Oberstufe eine Möglichkeit zur Aussprache mit den Eltern einzurichten.
POW: Was ist eigentlich aus den ersten G8-Abiturienten geworden?
Scheller: Soweit wir es vom ersten Abiturjahrgang wissen, haben viele inzwischen ein Studium aufgenommen und sind weitgehend dabei geblieben. Einige erzählten, dass unser „Begleitzeugnis“, in dem die Aktivitäten und das Engagement in den Profilbereichen, aber auch im sozialen Lernen wie etwa in der „Conflict Police“ oder der Schülermitverantwortung, sehr interessiert zur Kenntnis genommen wurden und manchem weitergeholfen haben. Aber das Abitur ist nur ein „Türöffner“. Wen man ein Kind stark gemacht hat, es bereit ist, seinen Weg zu gehen, dann werden die jungen Menschen ihren Weg auch gehen. Wichtig ist, dass wir die Schüler nicht zu „Fachidioten“ machen. Zufriedenheit im Leben hängt nicht nur mit den Noten zusammen. Wir dürfen die Kinder nicht auf den Kopf verengen, sondern müssen Kopf, Herz und Hand sehen – der Mensch an sich ist wichtig.
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